
B2
Modul 8. Stunde 2. Arbeitsmarkttrends
1. Wie sich die Arbeitswelt 2024 verändern wird (Quelle: Der Spiegel)
​
Homeoffice, Viertagewoche, Lebensarbeitszeit, KI und mentale Gesundheit: Diese Themen werden im kommenden Jahr besonders im Fokus stehen. Hier können Sie sich vorbereiten – mit Argumentationshilfen und Leseempfehlungen.
Die Arbeitswelt wandelt sich rasant. Entwicklungen wie die hin zu mehr mobiler Arbeit werden zunehmend wieder infrage gestellt; auch Aspekte wie die der Wochen- und der Lebensarbeitszeit kommen auf den persönlichen wie gesellschaftlichen Prüfstand. Was wird im kommenden Jahr die Debatte über Arbeitsgestaltung und -kultur prägen und welche Themen sollten Beschäftigte auf der Agenda haben? Ein Überblick.
Homeoffice und mobiles Arbeiten: Comeback des Büros?
»Jeder Tag, an dem man das Büro links liegen lässt und die Arbeitszeit lieber in den eigenen vier Wänden verbringt, steht für eine Reihe vertaner Chancen«, behauptet der Industrieverband Büro und Arbeitswelt (IBA), wie er selbst bekundet, »nicht ganz uneigennützig«. Nun sollte man, dem berühmten Diktum des Großinvestors Warren Buffett folgend, niemals einen Friseur fragen, ob man einen Haarschnitt braucht. Aber sicher ist: Die Debatte über das Homeoffice wird das kommende Arbeitsjahr weiter prägen.
Eine Forsa-Umfrage des IBA ergab, dass für vier Fünftel der Befragten der persönliche Kontakt zu Vorgesetzten und Kollegen das Hauptargument fürs Büro ist. Andererseits: Einfach nur den Arbeitsort verlagern und zwei Stunden in die Pendelzeit im Berufsverkehr investieren, um dann im Büro auch nur am Schreibtisch zu sitzen, stresst unnötig. Viele Firmen beordern ihre Angestellten aber zumindest für einen Teil der Zeit wieder in die Büros zurück. Kommt 2024 jetzt die große Rückkehrwelle? Der wohl prominenteste Gegner des Homeoffice, Trigema-Chef Wolfgang Grupp, 81 Jahre, hatte kurz vor seinem Rückzug nach Hause noch getönt: »Homeoffice gibt es bei mir nicht.« »Wer zu Hause arbeiten kann, ist unwichtig«, war eine seiner kalkulierten Provokationen. Unter der Hand würden wohl viele Führungskräfte gern wieder durchregieren können wie der Patriarch aus Burladingen. Der Geist wird aber kaum in die Flasche zurückkehren. Was technisch machbar ist, wird in der Regel auch genutzt, das ist eine Erfahrung, die sich durch alle Lebensbereiche zieht.
Unternehmer und TV-Investor Carsten Maschmeyer (»Höhle der Löwen«), konterte Grupps markige Einlassungen: »Wenn du jemandem nicht zutraust, zu Hause zu arbeiten, hättest du ihn gar nicht erst einstellen sollen.« Kontrolle führe zu Unproduktivität. Das Zuhause könne ein Ort für konzentrierte Deep-Work-Phasen sein, im Büro dagegen bei gemeinsamer Arbeit der Teamgeist entstehen. Maschmeyer fordert, die Wiederkehr der Präsenzkultur müsse »dringend aufgehalten werden«, da Homeoffice nicht nur Arbeitnehmern, sondern auch »Unternehmen und der Gesellschaft insgesamt« nütze.
Wer gegen das Homeoffice ist, findet Belege dafür, dass es nicht guttut, dass Menschen vereinsamen und schlechter arbeiten. Wer für das Homeoffice ist, findet ebenso Belege für das Gegenteil: Dass Präsenzkultur Arbeitnehmende ungemein belastet, die Stimmung in den Keller rauschen lässt und konzentriertes Arbeiten erschwert. Ein Blick in die Faktenlage hilft weiter: Der Wirtschaftspsychologe Carsten C. Schermuly sagt, dass viele Datensätze noch aus der Vor-Corona-Zeit stammten, in der Telearbeit eher exotisch war. Etliche stammten aus der Zeit der Pandemie selbst, die von Faktoren überschattet war, die heute weniger präsent sind. Viele Studien, so Schermuly, untersuchten auch einfach verschiedene Sachverhalte: »Zwei Tage Homeoffice pro Woche sind anders wirksam als vollständige Arbeit in remote.« Zusammengefasst: »Die positiven Konsequenzen von Homeoffice scheinen eher auf der Individualebene zu liegen, die Kosten und Nebenwirkungen stärker auf der Teamebene«, schreibt Schermuly . Weniger Kreativität, mehr Wissenssilos und ein höherer Führungsaufwand stünden den positiven Seiten gegenüber. Personalabteilungen werden sich der immer noch ungewohnten Realität stellen müssen, dass »one size fits all« weder für die Dienstkleidung noch für den Arbeitsort gilt. Manche Leute werden im Homeoffice kreuzunglücklich, weil ihnen der Kontakt zum Team fehlt, andere kommen schon genervt im Büro an, wenn sie sich sinnlos durch die Rushhour gequält haben, obwohl sie im Büro auch nur im Einzelzimmer sitzen. Das Thema dürfte auf jeden Fall ein Dauerbrenner nicht nur fürs kommende Jahr werden. Eines ist allerdings klar: Die Entscheidung darüber, ob mobil gearbeitet werden kann oder nicht, liegt aufgrund des Fachkräftemangels vielerorts nicht mehr beim Chef. Begehrte Kräfte sitzen an einem langen Hebel, wenn es um die Verhandlung über die Flexibilität von Arbeitsort und -zeit geht.
Künstliche Intelligenz und natürliche Skepsis
»KI wird sich bald überall finden: in jedem Unternehmen, in jedem Leben«, sagt die Stanforder Expertin Fei-Fei Li . Künstliche Intelligenz (KI) werde »zu einer Massenanwendung, die nicht mehr nur von Spezialisten genutzt werden kann, sondern potenziell von jeder und jedem. Egal, ob Sie als Ingenieur eine technische Frage haben, als Schüler einen Aufsatz recherchieren oder als Reisebüromitarbeiter eine Tour zusammenstellen: In der Regel bekommen Sie eine vernünftige Antwort.« Allerdings sei die Technik noch nicht fehlerfrei: »Manchmal halluziniert sie.« Fakt ist aber: Die neue Technologie wird allgegenwärtig sein. Die Anfänge sind längst gemacht: Jedes achte Unternehmen in Deutschland nutzt laut einer Erhebung des Statistischen Bundesamts bereits künstliche Intelligenz. Laut der Erhebung wird KI derzeit vor allem in der Buchführung (25 Prozent) und IT-Sicherheit (24 Prozent) eingesetzt, außerdem bei Produktions- und Dienstleistungsprozessen (22 Prozent) sowie in der Unternehmensverwaltung (20 Prozent). Auf der politischen Tagesordnung steht das Thema weit oben: Spätestens 2035 werde es keinen Arbeitsplatz mehr geben, der nichts mit KI-Anwendungen zu tun habe, so Arbeitsminister Hubertus Heil. Er glaubt: »Gut eingesetzt kann KI dafür sorgen, dass die Arbeitswelt humaner wird, dass sie menschlicher wird, dass wir Arbeitsunfälle verhindern beispielsweise, dass Arbeit gesund ist.« Allerdings könne die Entwicklung auch missbraucht werden, »um beispielsweise Arbeit zu verdichten, Menschen unter Druck zu setzen und total zu überwachen«.
Einer Xing-Umfrage zufolge findet mehr als die Hälfte der Deutschen es wichtig zu definieren, wie zukünftig mit KI in der Arbeitswelt umgegangen werden soll. Ein wichtiges Einsatzfeld wären Rekrutierungsprozesse: Die Suche nach geeigneten Bewerberinnen und Bewerbern kostet Unternehmen viel Zeit und gestaltet sich oft aufwendig. Da könnte KI helfen. Allerdings lehnt mehr als ein Drittel der Befragten KI-basierte Chatbots im Bewerbungsprozess komplett ab; vier Fünftel der Deutschen wollen beim Bewerbungsgespräch einer echten Person gegenübersitzen. »Klassische Fragen zu Beginn eines Prozesses, etwa nach dem Bewerbungsprocedere, Einstiegsmöglichkeiten oder Arbeitgeberleistungen, kann ein Chatbot übernehmen. Somit bleibt mehr Zeit für individuelle Fragen im eigentlichen Gespräch.«, so Frank Hassler von der New Work SE, dem Mutterkonzern von onlyfy by Xing.
Das ist eine der größten Hoffnungen: Dass der Einsatz von KI paradoxerweise die Arbeitswelt menschlicher machen kann, weil lästige Routineaufgaben und wiederkehrende Prozesse an sie delegiert werden können. Viele Beschäftigte sind aber dem Kollegen KI gegenüber eher skeptisch gesonnen. In einer Onlineumfrage des Marktforschungsinstituts Bilendi unter nichtakademischen Fachkräften mit Berufsausbildung etwa zeigte sich ein Viertel der Befragten davon überzeugt, dass die Vorteile des Einsatzes von KI vor allem auf Unternehmensseite liegen würden: Beschäftigte würden dazu getrieben, in kürzerer Zeit noch mehr zu erledigen.
Etwas mehr als die Hälfte der Befragten hat Angst vor der »allgemeinen Entwicklung im Bereich der künstlichen Intelligenz«. Nur 7,5 Prozent indes glauben, dass KI den eigenen Arbeitsalltag künftig »sehr stark« beeinflussen wird. Ein Drittel geht von einem »eher starken« Einfluss aus, die Mehrheit (knapp 60 Prozent) denkt, dass KI den eigenen Job »eher wenig« oder »gar nicht« beeinflussen wird. Nur ein Fünftel glaubt, KI werde den eigenen Job irgendwann vollständig ersetzen. Bei Beschäftigten in Logistik und Verkauf liegt der Anteil höher. Weniger als ein Drittel aller Befragten denkt, dass KI die eigene Arbeit interessanter machen werde, nur gut ein Viertel erwartet »mehr Raum für Kreativität«.
Generell fühlen sich viele Beschäftige, aber auch viele Unternehmen der neuen Herausforderung nicht recht gewachsen, weil es an Fortbildungen und eigenen Kompetenzen fehlt. Das Stimmungsbild zeigt aber: Wie beim mobilen Arbeiten scheint hier eine potenzielle gesellschaftliche Bruchstelle zu liegen, die vor allem politisch adressiert gehört.
Viertagewoche: Ist weniger mehr?
Kaum eine Debatte wurde in den vergangenen Monaten leidenschaftlicher geführt als die um das richtige Maß der Arbeitszeit. Dabei geriet ein wenig aus dem Fokus, dass weder die Fünftagewoche noch eine bestimmte wöchentliche Stundenzahl Naturgesetze sind – »Vollzeit« war schon immer menschengemachte Definitionssache. Und auch die Fünftagewoche ist eine relativ junge Errungenschaft. 1956 startete die Gewerkschaftskampagne »Samstags gehört Vati mir« – vorher waren sechs Tage Standard. Die fünf Tage hatten sich erst Ende der Sechzigerjahre flächendeckend durchgesetzt. Nun ist die Viertagewoche in der Diskussion: Kann man in weniger Zeit bei vollem Lohnausgleich so produktiv sein wie auf einer vollen Stelle? Nach einem viel beachteten, groß angelegten Experiment in Großbritannien sollen nun 50 deutsche Unternehmen das Modell ab Februar 2024 ausprobieren. Im Beirat sitzen Vertreter der Gewerkschaft IG Metall, des Arbeitgeberverbands BDA und des Zentralverbands des Deutschen Handwerks. Ergebnisse soll es ab Oktober geben.
Jahr 2022 zufolge wünschen sich gut 70 Prozent der Vollzeitbeschäftigten eine Viertagewoche bei gleichem Gehalt. Lediglich acht Prozent sind auch bei geringerer Bezahlung dafür. Eine neue Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) stellt außerdem fest: Nur 37,5 Prozent der Vollzeitbeschäftigen sind zufrieden mit der traditionellen Fünftagewoche. Etliche Gewerkschaften legen daher den Fokus auf eine Senkung der Wochenarbeitszeit. Jüngstes Beispiel: Die Gewerkschaft der Lokführer, die eine Arbeitszeitverkürzung von 38 auf 35 Stunden pro Woche für Schichtarbeiter bei vollem Lohnausgleich fordert und ab Januar dafür streiken will. Das Thema ist sicherlich eines der spannendsten des kommenden Jahres, weil es so viele Schnittstellen mit anderen wichtigen Arbeitsweltaspekten hat. Denn: Einfach nur die Wochenarbeitszeit herunterzufahren reicht nicht aus, um eine gleichbleibende oder sogar steigende Produktivität zu gewährleisten. Abläufe müssen optimiert, Meetings gestrafft, Routineaufgaben an künstliche Intelligenz delegiert werden. Alles hängt mit allem zusammen – und wie bei einem Mobile können auf einmal ganz andere Bereiche in Bewegung geraten, wenn man am anderen Ende etwas anstupst. Die Tendenz geht dahin, dass sich Bürojobs leichter zurechtstutzen lassen als Präsenzjobs – sprich: Bei Marketingexpertinnen könnte es leichter sein als bei, nun ja, Lokführern, um nur ein Beispiel zu nennen. Allerdings gilt auch hier: Der Markt diktiert die Regeln. So hat schon 2022 ein Klempnermeister gute Erfahrungen mit der Einführung der Viertagewoche in seinem Betrieb gemacht und kann sich seither kaum vor Bewerbungen retten – und das in einer Branche, die händeringend sowohl nach Fachkräften als auch nach Auszubildenden sucht. Zusammenfassend lässt sich sagen: Je länger der Hebel ist, an dem begehrte Arbeitskräfte bei ihrer Jobwahl sitzen, desto mehr Flexibilität ist für sie möglich, sowohl zeitlich als auch räumlich. Unternehmen ihrerseits können das als Chance sehen, sich als Arbeitgeber besser aufzustellen als ihre Mitbewerber im Kampf um begehrte Fachkräfte. Dass die Arbeitgeber indes eher zur Fraktion Jelängerjelieber gehören, überrascht nicht – der Chef des Bundesverbandes der Arbeitgeberverbände forderte Anfang des Jahres »mehr Bock auf Arbeit«, was erwartungsgemäß vielerorts Empörungsreflexe auslöste. Die Mehrheit der Beschäftigten selbst steht der Viertagewoche allerdings skeptisch gegenüber. Laut einer Studie des Jobportals Xing sind 53 Prozent der Deutschen überzeugt, dass sich die Wirtschaft weniger Arbeit bei vollem Lohnausgleich nicht leisten könne. 45 Prozent sehen sogar Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit dadurch gefährdet.
Privates im Job: Arbeitgeber kommen uns plötzlich sehr nah
Lange Jahre war Work-Life-Balance ein wichtiges Stichwort. So richtig greift das aber nicht mehr, denn auch die Arbeit gehört zum Leben – und wer hier unglücklich ist, steckt seine Lieben mit dem Unglücksvirus an, wie der Gallup-Chef Jon Clifton sagt. Das ist nicht nur menschlich bedauerlich, sondern auch wirtschaftlich fatal. Psychische Erkrankungen sind auf dem Vormarsch – die zunehmende Zahl diesbezüglicher Krankmeldungen dürfte aber auch einem offeneren Umgang mit dem Thema geschuldet sein. Unternehmen kommen also um das Thema »Mental Health« so oder so nicht herum. Betriebliche Gesundheitsvorsorge ist schon seit jeher ein wichtiges Instrument, um den Krankenstand niedrig zu halten und die Zufriedenheit der Beschäftigten zu erhöhen – von der gelungenen und ergonomisch sinnvollen Arbeitsplatzgestaltung bis hin zu Fitnessangeboten und kostenlosen medizinischen Untersuchungen. Neu ist, dass der Arbeitgeber jetzt in Bereiche vordringt, die das frühere Verständnis einer kompletten Trennung von Job und Privatleben aufzuweichen scheinen: Sei es, dass über Dienstleister Lebenshilfe in psychischen und familiären Notlagen angeboten wird, sei es, dass sogar das Projekt Familienplanung zu einem wird, bei dem man sich Hilfe vom Arbeitgeber holt. So bietet etwa die Firma Merck, selbst auf dem Gebiet der Kinderwunschbehandlungen tätig, ihren Angestellten kostenlose Unterstützung bei derartigen Behandlungen an; bei anderen Firmen gehört Social Freezing zu den Benefits, also das Einfrieren eigener Eizellen für die spätere Befruchtung.
Die Trennung in, wie man früher gesagt hätte, Dienst und Schnaps, Berufliches und Privates, scheint also einer ganzheitlicheren Betrachtung der eigenen Lebensführung zu weichen. Die Arbeit ist zwar ein wichtiger (und gern auch räumlich oder zeitlich getrennter) Bestandteil der Selbstverwirklichung, aber das eigene Ich ist ja in beiden Bereichen das gleiche. Doppelte Buchführung mag sinnvoll sein, doppelte Lebensführung nicht. Das Thema ist also: Wie weit dringt die Arbeit in Bereiche vor, in denen sie früher nichts zu suchen hatte? Und wie weit nehmen die Beschäftigten Aspekte in ihren Arbeitsalltag mit, die sie früher eher außen vor gelassen hätten? Da kommen auch Stichworte ins Spiel wie »Neurodiversität« – ein Begriff, der in jüngster Zeit immer mehr in den Fokus von Personalern kommt: Die Erkenntnis, dass unterschiedliche psychische Verfasstheiten auch Bereicherung mit sich bringen können. ADHS-Betroffene etwa gelten als besonders kreativ, Legasthenie-Betroffene sprechen gern vom »legasthenen Talent« – weil die Rechtschreibschwäche oder -störung oft mit größerer Wahrnehmungskraft und verstärkter räumlicher Wahrnehmung einhergehe. In einer repräsentativen Umfrage, die die Marktforschungsberatung Censuswide im August 2023 für das Karrierenetzwerk LinkedIn durchführte, ordneten sich rund 13 Prozent der 2304 befragten Arbeitnehmer als Legastheniker ein. Von den Befragten ohne Lese- und Rechtschreibprobleme gab jeder Zweite an, sich unsicher im Umgang mit Kollegen mit Legasthenie zu fühlen. Nur knapp drei von zehn Befragten sagten, sie wüssten, wie sie betroffene Teammitglieder unterstützen könnten. Dabei könnte ein anderer Trend, nämlich der zu verstärktem Einsatz von KI, Hilfestellung geben: »Wir sehen eine technische Entwicklung, bei der Berufstätigen etwa mithilfe künstlicher Intelligenz viele Lese- und Schreibaufgaben erleichtert oder auch ganz abgenommen werden können«, sagt Annette Höinghaus, Sprecherin des Bundesverbandes Legasthenie und Dyskalkulie. Arbeitgeber müssen diese besonderen Bedürfnisse nur in den Blick nehmen wollen – und dafür Sorge tragen, dass Menschen jenseits des Normspektrums sich im Betrieb wohlfühlen und leistungsfähig sein können. Auch hier könnte der Fachkräftemangel als Katalysator einer fälligen Entwicklung wirksam werden. Allerdings bleiben berechtigte Zweifel, ob das so sein wird. Das zeigt ein anderer Bereich: der der Schwerbehinderten. Obwohl Arbeitgeber verpflichtet sind, Menschen mit Schwerbehinderung einzustellen, erfüllen nur 39 Prozent der Firmen die Quote vollständig. Das ist der schlechteste Wert seit zehn Jahren.
Renteneintritt: Reif für den Ruhestand oder doch lieber länger arbeiten?
Je knapper die Fachkräfte, desto später das Rentenalter: Diese Schlussfolgerung liegt nahe, aber gesellschaftlich scheint die Rechnung nicht aufzugehen. Die meisten Beschäftigten in Deutschland würden am liebsten lange vor dem gesetzlichen Renteneintrittsalter Schluss machen mit dem Job. Und eine Rente erst mit 70 Jahren, wie sie in den vergangenen Jahren immer wieder von Arbeitgebervertretern ins Spiel gebracht wurde, ist politisch kaum durchsetzbar. »Irgendwann ist auch mal gut«, fasste Bundeskanzler Olaf Scholz die Debatte jüngst zusammen. Eine Befragung des gemeinnützigen Demografienetzwerks ddn unter 2500 Erwerbstätigen zeigte jüngst: »Irgendwann« ist zumindest in den Wunschvorstellungen der meisten Beschäftigten deutlich früher als mit dem gesetzlichen Renteneintrittsalter von 67 Jahren, das für alle ab 1964 Geborenen gilt. Eine große Mehrheit (63,4 Prozent) wünscht sich, spätestens mit 63 Jahren in Rente gehen zu können. Mehr als ein Drittel will sich sogar schon mit 61 oder früher aus dem Arbeitsleben verabschieden. Weniger als 15 Prozent der Berufstätigen unter 30 Jahren können sich vorstellen, bis zum Alter von 67 Jahren zu arbeiten. Was aber müsste passieren, damit ein längeres Arbeitsleben gegenüber einem frühen Renteneintritt attraktiver würde? Die Antwort findet sich zum Teil in den anderen Trends, über die in den kommenden Monaten viel zu reden sein wird: Als wichtigsten Ansatz nannten die Befragten die freie Wahl der Arbeitszeit, mehr Gehalt und weniger körperliche Belastung oder Stress (jeweils um die 40 Prozent). Eine freie Wahl des Arbeitspensums nannte ein gutes Drittel, die Wertschätzung durch Vorgesetzte ein knappes Drittel als Voraussetzung, um weiterarbeiten zu wollen.
Selbstbestimmung und Wertschätzung – so lassen sich Menschen halten. Christian Jerusalem, Gründer der Beratungsfirma Wiseforce Advisors, ist auf die Entwicklung älterer Belegschaften spezialisiert. Er sagt, bei der Debatte über die Rentenreform komme die um Inhalte und Sinnhaftigkeit der Arbeit zu kurz: »Die sinnhafte Tätigkeit aus intrinsischer Motivation ist der Treiber für Wertschöpfung und Zufriedenheit.«
Die ddn-Umfrage scheint diese These zu bestätigen – grob gesagt: Wer im höheren Alter noch arbeitet, kann sich eher vorstellen, noch ein paar Jahre dranzuhängen. Und selbstbestimmt Arbeitende, also etwa Führungskräfte, stehen dem gemeinhin positiver gestimmt gegenüber als Menschen, die im Job wenig gestalten können. Jerusalems Diagnose: Bei den Ü50-ern schlummere »ein enormes Reservepotenzial an Mitarbeitenden«.
Hier schließt sich der Kreis zu den anderen Themen, die in den kommenden Monaten bedeutsam sein werden. Vor allem flexiblere Arbeitsmodelle, sowohl zeitlich als auch räumlich, sind geeignet, den Arbeitsplatz nicht als einen Ort erscheinen zu lassen, den man so schnell wie möglich verlassen will.